Gegen den Wind

 

 

Ein eiskalter Wind tobte um die einsame Hütte. In ihrem Inneren war es still; einzig das Heulen des Windes war zu hören, das durch die Fugen der Tür drang. Der dienstältere Wachhabende hatte es sich mit einer Zeitung gemütlich gemacht; sein Kollege stand am Fenster und spähte pflichtbewusst in die Nacht hinaus. Im Begriff sich eine Tasse Kaffee nachzuschenken, nahm dieser plötzlich eine schemenhafte Bewegung in der Dunkelheit wahr.

„Hast du das gesehen?“, durchbrach er die Stille. „Dort draußen huschte eben ein Schatten vorbei!“ Aufgeregt griff er zum Nachtsichtgerät.

„Bestimmt war es bloß wieder ein Reh“, sagte sein Vorgesetzter – ohne von der Zeitung aufzublicken.

„Nein! Diesmal irre ich nicht – ganz sicher.“

„Und was glaubst du gesehen zu haben?“

„Ich denke es war ein Mensch – vermutlich ein Flüchtling.“

„Und wenn schon…“, gab der Ältere achselzuckend zurück.

„Was soll das bedeuten? Wir müssen ihn doch stellen!“

„Ach Junge, auf einen mehr oder weniger hinter der Grenze kommt es nicht an.“

„Ich glaub’ ich hör’ nicht Recht!“, erboste sich der Junge. „Was sollen wir denn mit all den Flüchtlingen machen? Wo sollen sie untergebracht werden?“

Vom Eifer seines jungen Kollegen genervt, schüttelte der andere lediglich den Kopf, was soviel bedeutete, als dass dies nicht sein Problem war. Sein Kollege aber ließ nicht locker.

„Jetzt mag es dir egal sein, aber spätestens wenn sie in dein Gartenhaus eindringen, es besetzen und verwüsten, wird es dir nicht mehr egal sein“, ereiferte sich der Junge weiter. „Und, dass sie unseren Leuten die Arbeit wegnehmen, stört dich wohl auch nicht, wie?“

Der langjährig Wachhabende legte die Zeitung beiseite. „Hör zu. Sollten sie in mein Haus eindringen und darin randalieren, so ließe ich es räumen und wieder herrichten – dafür gibt es Versicherungen. Und ja, diese Menschen mögen Arbeitsplätze benötigen, aber ebenso schaffen sie auch welche.“

Enttäuscht schüttelte nun der Junge den Kopf. „Dann verrate mir noch eines, Paul: Wozu sitzen wir beide hier in dieser Einöde, wenn wir doch nicht tun, was von uns erwartet wird?“

Herausfordernd sah Paul sein Gegenüber an. „Ich bin hier um meine Dienstjahre abzusitzen und meine Zeitung zu lesen. Und du?“

„Ich bin hier um meine Arbeit zu machen und deshalb gehe ich jetzt hinaus!“

„Herrgott, Junge! Hast du überhaupt eine Ahnung, was diese Menschen durchmachen?“, erhob der Ältere seine Stimme. „Um zu überleben waren sie gezwungen ihre Heimat zu verlassen; viele von ihnen mussten ihr Hab und Gut zurücklassen, oftmals sogar ihre Familien. Diese armen Teufel sind seit Wochen zu Fuß unterwegs und das Einzige, was sie noch besitzen und was sie dazu antreibt weiterzukämpfen, ist die Hoffnung auf etwas Glück, um in Frieden leben zu können. Jetzt sage du mir: Willst du ihnen diese Hoffnung verwehren und zwischen ihnen und ihrem Glück stehen? Wenn ja, dann nur zu – erfülle deine Pflicht! Aber sieh’ dich vor, denn dort draußen wird dir ein eiskalter Wind entgegenwehen.“