Flucht nach vorne

 

 

Im Raum war es ruhig; lediglich das Piepen des EKG war in regelmäßigen Abständen zu hören. Seit gut fünfzig Minuten saß er bereits in dem stickigen Zimmer und beobachtete, wie sich der Brustkorb des alten Mannes im Bett gleichmäßig hob und senkte. Es hatte ihn einiges an Überwindung gekostet herzukommen, aber da saß er nun und wartete. Mehr als einmal hatte er daran gedacht aufzustehen und wieder zu gehen, doch sein Respekt vor dem Alter hielt ihn zurück; und seine Neugier, denn immerhin wollte er wissen, weshalb er hatte kommen sollen. Er merkte, wie die Schwere der Luft ihn allmählich träge werden ließ – es machte ihn ungeduldig, denn nichtsdestotrotz wollte er so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus hinaus. Hatte der Alte gerade eben geblinzelt? Nein. Oder doch? Ja! – das war ein Blinzeln. Endlich! – dachte er bei sich.

Der Alte schlug die Augen auf; etwas benommen blickte er durch den Raum. Als er zu sich kam, erkannte er den Jungen und schien erleichtert.

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte er, nachdem er sich mühevoll im Bett aufgerichtet hatte.

„Noch nicht lange“, log der Junge.

„Ich bin froh, dass du hier bist.“

„Weshalb hast du mich herbestellt?“

Ein Lächeln huschte über die Lippen des Alten – es gefiel ihm, dass der Junge direkt war.

„Sieh’ dich doch einmal um! Ist das nicht offensichtlich?“

„Willst du mal wieder Mitleid erhaschen?“

„Herrgott noch mal! Fängst du schon wieder damit an! Kannst du diese alte Geschichte nicht endlich ruhen lassen? Ich habe mich doch schon …“ – erboste sich der Alte, ehe ihm ein Hustanfall das Wort abschnitt.

Der Junge reichte ihm ein Glas Wasser, von dem der Alte hastig ein paar Schlucke nahm. Den Husten gebannt, ließ er sich erschöpft ins Kissen fallen.

„Hör’ zu! Ich will mich mit dir nicht streiten – nicht diesmal!“ – er sah dem Jungen fest in die Augen. „Dazu habe ich keine Kraft mehr.“

„Gut – das wäre dann geklärt. Aber weswegen bin ich dann hier?“

Er konnte dem Jungen einfach nicht böse sein, denn tatsächlich mochte er dessen Kaltschnäuzigkeit, in der trotz allem Respekt mitschwang.

„Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor …“ – er zögerte einen Moment – „Ich will mich von dir verabschieden, mein Junge.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Du weißt genau, wie ich das meine. Mit mir geht’s zu Ende.“

„Ach was! Wir wissen doch beide, dass Unkraut nicht vergeht. Du wirst sehen, in ein paar Tagen werden sie dich entlassen – dann kommst du heim und kannst deinen Nachbarn wieder das Leben schwer machen.“

Daraufhin legte sich ein hämisches Grinsen auf die Lippen des Alten; nur zu gut wusste er, dass der Junge auf seine launische Grießkrämerei anspielte – eine Freiheit, die er sich auf seine alten Tage gerne herausnahm.

„Heimkommen? Pah! Ich habe keine Lust in dieses Heim voller alter Menschen zurückzugehen, von denen einer seniler ist, als der andere. Es ist dort so eng – ich fühle mich dort so eingesperrt, verstehst du?“

Der Junge nickte, doch er verstand es nicht – er hatte noch nie ein Altersheim besucht. Seit gut zwei Jahren hatte er seinen Großvater nicht gesehen; sie waren damals im Streit auseinandergegangen und hatten seither nichts voneinander gehört.

„Und wenn wir dir ein anderes Zuhause finden?“

„Als wenn es dich interessieren würde, was mit mir geschieht“, stichelte der Alte. „Nein – mein Junge – es würde letztendlich nichts ändern. Ich habe bereits mit allem abgeschlossen und soll ich dir etwas verraten? Ich kann es kaum erwarten zu gehen.“

„Blödsinn!“, entfuhr es dem Jungen. „Es sieht dir nicht ähnlich das Handtuch zu werfen. Bei Großmutter wusste ich, dass es für sie eine Erlösung sein würde. Sie war keine Kämpfernatur; ihr hatte ich es damals sofort geglaubt, als sie davon sprach zu gehen. Aber dir nehme ich das nicht ab – dir nicht!“

Für eine Weile schwiegen beide. Der Junge fühlte sich überrumpelt. Nach seines Großvaters Charade vor zwei Jahren, hatte er mit einem ähnlichen Spiel des Alten gerechnet, als er das Krankenzimmer betrat. Auf einen Abschied jedoch war er nicht vorbereitet gewesen.

„Weißt du, wonach ich mich sehne?“, brach der Alte das Schweigen.

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Ich sehne mich danach endlich frei zu sein.“

„Ist das wieder einer deiner Aussetzer, die dich glauben machen du wärst noch in Kriegsgefangenschaft?“

Der Alte warf ihm einen strengen Blick zu.

„Denn du bist frei – hörst du?“

„Nein bin ich nicht – und ich war es auch niemals!“, entgegnete der Alte scharf. „Erst in den letzten Tagen wurde mir bewusst, dass ich mein ganzes Leben lang eingesperrt war. Und ich spreche hier nicht bloß von der Kriegsgefangenschaft oder dem Altersheim – nein, ich spreche davon, in meinem Kopf eingesperrt zu sein – ich bin ein Gefangener meiner Gedanken.“

Verständnislos sah der Junge ihn an.

Würde er es am Ende verstehen? – fragte sich der Alte. Oder vergeude ich bloß meine Zeit? Der Drang, es sich von der Seele zu reden, überwog, also fuhr er fort.

„Mein Problem all die Jahre über war es, jedem gefallen und es allen immer recht machen zu wollen. Zuerst meinen Eltern; deshalb studierte ich, als ich die Möglichkeit dazu bekam, denn sie wollten, dass ich später einen anständigen Beruf ausübe. Dann lernte ich deine Großmutter kennen. Um es ihr recht zu machen, arbeitete ich wie ein Tier; denn sie träumte von einem Haus mit Garten und einem Auto, mit dem wir auf Urlaub fahren konnten. Auch von meinen Vorgesetzten ließ ich mir auf dem Kopf herumtanzen, obwohl ich es nicht wollte…“

„Aber so ist die Gesellschaft nun mal“, unterbrach ihn der Junge. „Jeder wird irgendwo darin eingeordnet – ob er will oder nicht.“

„Genau so ist es; doch so darf es nicht sein! Mein Leben lang habe ich mir Sorgen gemacht – um meine Familie, um meine Arbeit, um die Gesellschaft und das mir von ihr entgegengebrachte Wohlwollen – und nun sieh’ dir an, wohin es mich gebracht hat! Ich lebe in einem Heim, wo bereits alles vorgekaut ist und einem auch das letzte Bisschen Würde genommen wird, indem man für alles Rechenschaft ablegen muss. Weißt du, ich habe es satt – ich kann nicht mehr!“

Alleine der Gedanke an seine Situation hatte ihn aufgebracht; sichtlich entkräftet sank er ins Kissen zurück. „Ich will endlich frei sein, daher trete ich die Flucht nach vorne an.“

 „Warum erzählst du mir das alles?“

„Ich musste es los werden und ich will, dass du es verstehst“, antwortete der Alte, als er sich wieder beruhigt hatte. „Ich weiß, dass wir nicht immer einer Meinung waren, und es tut mir Leid, dass wir die vergangenen zwei Jahre verloren haben. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen – aber ich kann es nicht. Du hast deinen Weg noch vor dir und für diesen will ich dir noch etwas mitgeben.“

Er sah seinem Enkel fest in die Augen, die einen glasigen Ausdruck bekommen hatten. „Mein Junge, was immer du in deinem Leben noch tun wirst, sollst du tun, weil du es willst und, weil du es für richtig hältst. Sie mögen dir widersprechen und dich für verrückt erklären, aber lasse dich niemals von anderen dazu drängen oder überreden, es anders zu tun – selbst, wenn es Blödsinn ist, den du machst. Nimm’ dir Freiheiten heraus, wann immer du sie brauchst; halte deinen freien Willen am Leben und triff deine eigenen Entscheidungen – zu denen du auch stehst – damit du am Ende nichts zu bereuen hast!“

Der Junge ergriff die Hand seines Großvaters und drückte sie leicht. Mit aller Kraft unterdrückte er seine Tränen.

„Ich weiß, es ist nicht viel, was ich dir geben kann – mein Junge – aber ich hoffe, du machst das Beste daraus.“

Nun konnte der Junge seine Tränen nicht länger zurückhalten; von den Worten seines Großvaters gerührt, begann er leise zu schluchzen.

Der Alte indes, war erschöpft und erleichtert zugleich. Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen schmiegte er sich zufrieden in das Kissen und ließ sich vom Schlaf der Freiheit näher bringen…